NDR 90.3

2022-09-24 06:06:29 By : Ms. Annie Qiu

28 Menschen sterben, rund 100 werden zum Teil schwer verletzt, als am 5. Oktober 1961 in Hamburg eine S-Bahn auf einen abgestellten Bauzug prallt. Der verheerende Unfall sorgt damals bundesweit für Entsetzen.

"Ich habe versagt. Ich habe den Bauzug vergessen", sagt der damals 57 Jahre alte Bundesbahn-Obersekretär Alfred Messer unmittelbar nach dem Unglück. Er gibt sich die Schuld daran. In einem späteren Gutachten, das Messers menschliches Versagen etwas sperrig beschreibt, heißt es: "Der bedauerliche Unfall ist dadurch entstanden, dass der Fahrdienstleiter Messer die Ausfahrt für den S-Bahn-Zug PS 3819 durch Stellen des Ausfahrtssignals F freigab, ohne vorher den Fahrweg ordnungsgemäß zu prüfen."

Es ist 22.34 Uhr, als Messer an jenem Donnerstag dem S-Bahn-Zug aus Richtung Hauptbahnhof das Abfahrtszeichen nach Bergedorf gibt. Diese Information bekommt auch sein Kollege, der 28 Jahre alte Bundesbahn-Assistentenanwärter Harald Kruse, mit. Nur Momente später erinnert Messer sich daran, dass auf dem Gleis noch ein Bauzug rangiert, beladen mit riesigen Doppel-T-Trägern für eine neue Brücke. Doch es ist bereits zu spät. Nur der Zugführer des Bauzugs kann rechtzeitig abspringen.

Um 22.38 Uhr kracht die S-Bahn, die auf Tempo 70 beschleunigt hat, zwischen den Stationen Berliner Tor und Rothenburgsort mit ungebremster Wucht in den unbeleuchteten Rangierzug. Der Krach ist ohrenbetäubend. Die Stahlträger bohren sich von vorn in den ersten Wagen der S-Bahn - rund 13 Meter tief. Fatalerweise passen sie mit ihren Abmessungen genau in die Kabine der Bahn und drücken sie zusammen. Die Passagiere werden eingeklemmt, durch die Luft geschleudert und grausam verstümmelt. Kaum jemand im ersten Waggon kommt mit dem Leben davon.

Nur wenige Minuten nach dem Aufprall treffen die ersten Helfer ein. Jede Menge Polizei- und Krankenwagen werden gerufen. Auch die Feuerwehr schickt alle verfügbaren Wagen zur Unfallstelle. Die ist allerdings schwer zu erreichen. Sie liegt auf einer Brücke - in einer Höhe von rund zwölf Metern. Um die Böschung besser überwinden zu können, werden Seile gespannt. Feuerwehrleute und Polizisten versuchen verzweifelt, die Eingeklemmten zu befreien und Leben zu retten. Mit Schweißbrennern, Brecheisen und Beilen trennen sie mühsam die verbogenen Metallteile voneinander. Derweil irren Verletzte verstört im Dunkeln umher. Etliche Passanten stellen sich als Helfer zur Verfügung. Walter Schmedebach - damals Gesundheitssenator - sagt später, er habe junge Mädchen und Frauen gesehen, die stundenlang Taue hielten, an denen die Tragen abgeseilt wurden.

Bei einigen Opfern sind die Verletzungen so lebensbedrohlich, dass Ärzte noch an Ort und Stelle Arme oder Beine amputieren müssen. Stundenlang sind Schmerzensschreie der Eingeschlossenen zu hören. Bis 5 Uhr in der Früh dauert der Einsatz der Hilfskräfte, zu denen auch das Technische Hilfswerk (THW) gehört. Insgesamt sind 175 Feuerwehrleute im Einsatz. Anders als heute werden die Rettungskräfte nach solch belastenden Unglücken damals nicht psychologisch betreut. Die verstörenden Eindrücke tragen sie über Jahre mit sich herum.

An diesem Tag - wohl dem schrecklichsten in der Geschichte der Hamburger S-Bahn - verlieren etliche Menschen ihre Angehörigen, Freunde und Bekannte. Familien werden auseinandergerissen. Viele Verletzte müssen sich zeitlebens mit Handicaps arrangieren. Zwar werden Schmerzensgelder gezahlt, aber es ist unklar, ob die Entschädigungen im Einzelfall ausreichen.

Die inzwischen 83 Jahre alte Hamburgerin Heike Raczka kann sich noch gut an den Unglückstag erinnern - sie saß damals in genau dieser S-Bahn. Nur durch eine glückliche Fügung ist ihr nichts passiert. Sie will an jenem 5. Oktober 1961 eigentlich vorn einsteigen, aber weil es dort zu voll ist, sitzt sie in der Mitte. "Dadurch ist mir nichts passiert." Lediglich ein Schuh und ihr Hut, den sie trägt, fliegen durch die Gegend. Das Ausmaß der Katastrophe ist ihr zunächst gar nicht klar: Die zertrümmerten vorderen Wagen der S-Bahn mit den Toten und Verletzten sieht sie nicht in dieser Nacht. "Es hieß, es wäre ein Unfall und wir sollten doch lieber aussteigen und über die Gleise zurück zum Berliner Tor gehen." Der Schock kommt erst am nächsten Tag, als sie in die Zeitung schaut.

Alfred Messer wird 1963 der Prozess gemacht. Fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige Transportgefährdung - so lauten die Anklagepunkte. Auch Messers Kollege Harald Kruse sitzt auf der Anklagebank. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sind gleichermaßen bemüht, den Bundesbahn-Bediensteten so weit wie möglich zu helfen und menschlich zur Seite zu stehen. Beide haben sich zuvor nie etwas zu schulden kommen lassen. Möglicherweise war Messer in der Unglücksnacht durch nebenbei ausgeführte Schreibarbeiten abgelenkt. Und Kruse konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass sein ranghöherer Kollege ihm fälschlicherweise das Signal "Freie Fahrt" gibt und einen ganzen Zug vergisst. Das Urteil für Messer: ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Kruse wird freigesprochen.

Bitter ist damals die Erkenntnis, dass es bereits eine neuartige Technik gibt, bei der der Mensch nicht mehr eingreifen muss. Das "Blocksystem" lässt jeden Zug die Signale über Gleiskontakte automatisch für den nachfolgenden Zug stellen. Bei außerplanmäßigem Rangieren sperrt die Technik alle relevanten Gleise. Dieser sogenannte Selbstblock wird damals bereits zwischen Poppenbüttel und Altona eingesetzt. Für die Strecke zwischen Berliner Tor und Bergedorf hingegen muss die Fahrstrecke noch für jeden Zug neu eingestellt werden und ist somit entsprechend gesichert - sofern diese Sicherung nicht manuell aufgehoben wird. Die Bundesbahn weist damals entschieden Vorwürfe zurück, dass ein vollständiger "Block"-Einbau bis dato aus Spargründen unterblieben sei, sondern betont die geplant schrittweise Umsetzung.

Alfred Messer wird sich von dem Unglück nie wieder erholen - zu schwer wiegt für ihn die Schuld. Weiter bei der Bahn zu arbeiten, ist für den Vater einer Tochter und eines Sohnes langfristig nicht mehr möglich, trotz großer Bemühungen. Kuren und Urlaube helfen ihm nicht. Frühere Kollegen berichten, Messer habe stundenlang geistesabwesend vor sich hingestarrt. Er wird vorzeitig pensioniert und muss mehrfach in Nervenkliniken eingewiesen werden. Mit seiner Frau lebt er später zurückgezogen in Hamburg und kapselt sich immer mehr ab. Er ist ein gebrochener Mann. Messer stirbt 1985 im Alter von 82 Jahren in Altona.

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